Doppelte Lottchen, alias „Das doppelte Lottchen“

Das „Doppelte Lottchen“ ist ein 1949 in Deutschland erschienener Roman von Erich Kästner, der aber in seiner Grundidee tatsächlich bereits auf den Erlebnisbericht der Levitan-Zwillinge Jule und Franzi am 24. Dezember 1926 im Hause der Familie Levitan in der Victoriastraße 10 zu Berlin zurückgeht.[1] Mit dem vorliegenden Buch „Auf dem Rücken der Weisen Schildkröte“ liefern wir also erstmalig das Original des „Doppelten Lottchens“, oder besser, den zu Lebzeiten Erich Kästners nie veröffentlichen Vorläufer desselbigen.
Diese ursprüngliche Zwillingsgeschichte hätte bereits 1927 Erich Kästners erste große Veröffentlichung und zugleich der erste wahre Roman der Weltgeschichte werden können. Doch ein allzu kleiner Lektor, der eine allzu große Geschichte auf den Tisch gelegt bekommen hatte, verhinderte dies auf tragische Weise.[2] Siehe Glossar „Hieronymus Schneidewind“ sowie Glossar „Erich Kästner, alias Geist aus der Decke“.
Herr Kästner vergrub nach dieser für ihn damals beschämenden Ablehnung völlig demoralisiert sein Manuskript im dunkelsten Winkel der Schreibtischschublade und später aufgrund einer bevorstehenden Hausdurchsuchung der Nazis im Jahre 1943 endgültig im doppelten Boden seines alten Kleiderschranks.[3] Erst siebzig Jahre später spielte mir Erich Kästner, oder besser sein Geist, dieses Originalmanuskript in die Hände. Dass ich auf dem Flohmarkt genau diesen alten Kleiderschrank Erich Kästners mit dem Manuskript erstanden habe, erscheint mir, sooft ich im Nachgang über unsere nächtliche Begegnung nachdenke, immer weniger als ein Zufall. Und bis zum heutigen Tag betrachte ich Kästners Manuskript als meinen größten Schatz – ist es doch der einzige schriftliche Beleg für die Wahrhaftigkeit des Erlebnisberichts der Levitan-Zwillinge und der Aufzeichnungen Kästners, in denen selbst noch die unverschämten Randanmerkungen des Lektors Schneidewind zu finden sind.[4]
Nur einmal noch trat Kästner mit dem schon leicht geändert Stoff des wahren „Doppelten Lottchens“ ans Licht der Öffentlichkeit, nämlich im Jahre 1942, als er dem Regisseur Josef von Baky die Geschichte als Basis für ein Drehbuch unter dem Titel „Das große Geheimnis“ vorschlug. Das Filmprojekt wurde wegen eines kurz darauf erfolgten neuerlichen Schreibverbots Kästners endgültig fallen gelassen.
Kurioserweise trug der subalterne Lektor Hieronymus Schneidewind als blindes Werkzeug des weise waltenden Schicksals zumindest zur Entstehung des zweiten „Doppelten Lottchens“ bei, das Erich Kästner 1949 veröffentlichte. Denn was hatte Herr Schneidewind am Donnerstag, den 13. Januar 1927, Herrn Kästner auf sein eingereichtes Manuskript hin geantwortet:

 

„Vielleicht sind Sie ja doch begabt und ich habe es nur noch nicht bemerkt. Also nur Mut! Noch ist nicht aller Tage Abend. Ich gebe Ihnen folgenden gut gemeinten Rat. Schreiben Sie die Geschichte am besten noch einmal völlig um. Die Idee mit den Zwillingskindern ist ja ganz nett und es könnte sicher ein gutes Kinderbuch daraus werden. Aber den ganzen Quatsch mit den Ebenen, Drachen, Zauberern, Zeitlöchern und der Schönen Closetta …“
„Entschuldigung Herr Lektor, Cloeda! Ihr Name ist Cloeda …!“
„… Na meinetwegen, dann eben Clopetra, also diesen ganzen Unsinn lassen Sie doch bitte weg!“
Als Erich Kästner zwanzig Jahre nach dem Bericht der Levitan-Zwillinge gerade verzweifelt nach einem neuen Stoff für ein Kinderbuch suchte, fiel ihm dann genau die Idee des kleingeistigen Hieronymus Schneidewind wieder ein. Und im Ergebnis entstand das weltweit bekannte „Doppelte Lottchen“ – ein wunderschönes Buch, das allerdings leider so gut wie gar nichts mehr mit der tatsächlichen Handlung gemein hatte, auch wenn es einige Bestandteile des unveröffentlichten Erstlingswerks „Auf dem Rücken der Weisen Schildkröte“ bewahrte. Denken Sie zum Beispiel an das Zwillingsmotiv des Trennens und Wiederfindens, an die Figur von Lottes Mutter, die wie auch Frau Siebenblatt eine emanzipierte alleinerziehende Mutter ist, an den Vater Herrn Levitan mit seinen markanten Schattenseiten und natürlich an die hochherzigen Eigenschaften Lottes wie Mut, Ehrlichkeit und Wohltätigkeit, die ebenso der realen Jule Levitan eigen sind.


[1]  Siehe Kap. „Enthüllungen am Weihnachtsabend“.

[2]  Siehe Kap. „Enthüllungen am Weihnachtsabend“, Kap. „Warum ein Goldfisch den Atlantik durchquert“, Kap. „Ende oder Anfang? Nachsatz des Herausgebers“: „Die nächtliche Erscheinung“.

[3]  Siehe dazu Kap. „Nachsatz des Herausgeber“: „Die nächtliche Erscheinung“.

[4]  Siehe Kap. „Nachsatz des Herausgeber“: „Die nächtliche Erscheinung“.


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